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Was es ist – ist es?

Galerie de la Gare, Speyer

November 2011

 

 

 

 

Vorankündigung in der Speyrer Rheinpfalz, 5.11.2011

Einführende Worte Hans-Jürgen Herschel

Vernissage Lena Csercsevics: Was es ist - ist es?

Galerie de la gare, Speyer 5.11.2011

 

 

Verehrte Anwesende,

 

vor die Wahl gestellt, innen oder außen zu sein, haben Sie sich richtig entscheiden, Sie sind in dieser Ausstellung von Lena Csercsevics, und alles andere wäre auch mega-out.

Das Thema Innerlichkeit-Äußerlichkeit muss jeden in den Wurzeln seiner Existenz berühren. Denn „was es ist“, das Licht der Welt zu erblicken, geboren zu werden, scheint offensichtlich. Es ist der (biologisch unabwendbare) Auszug aus einem vertrauten, Geborgenheit schenkenden Innen-Raum in einen Außen-Raum, den der (oder die) in ihn Verstoßene im Regelfall mit Schreien begrüßt - und das nicht ohne Grund: ungeheuer ist er, von desorientierender Weite und beängstigender Kälte.

Nun, wir haben den traumatischen Ortswechsel alle überlebt und mittlerweile erfahren, dass es nicht der einzige bleiben sollte. Leben heißt bereit sein zu solchen Übergängen, zu solchem Transzendieren, Überschreiten des Gewohnten.

„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen.“ schreibt Hermann Hesse und er fährt fort: „Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns, Stufe um Stufe weiten“.

 

Dass Lena Csercsevics ihre Arbeiten zu diesem Thema in einem Alter geschaffen hat, in der Altgewohntes, die Schule nämlich, endet und Neues, das unabsehbare Leben auf eigene Verantwortung und eigenes Risiko, beginnt, kann nicht verwundern.

Verwundern aber kann die Sensibilität, mit der das Thema künstlerisch umgesetzt wird.

Die im April 2009 als Teil einer von Joachim Hanisch betreuten Facharbeit entstandenen Fotografien wirken als formal geschlossene Einheit. Konsequent wird mit dem Kontrast alter, teilweise vor dem Abriss stehender Gebäude und der in diesen Räumen erscheinenden Figur eines jungen Mädchens gearbeitet. Konsequent wird auf sparsame Farbgebung gesetzt; Grautöne dominieren und auch das Kleid der jungen Frau, ein eher blasses Rosa, hebt sich kaum davon ab. Dem ersten Blick verschließt sich die Tiefe des Gegensatzes, dem näheren, gewissermaßen denkenden Blick zeigt sie sich. Während auf der Seite der Gebäude die Farben verblasst sind, Leuchtkraft und Reinheit verloren haben, kurz gesagt: ein Nicht-mehr spiegeln, steht die blasse Farbe des Kleides für ein Noch-nicht. Die aus der Vergangenheit kommende, fallende Linie der Gemäuer kreuzt die in die Zukunft führende, aufsteigende Linie des jungen Mädchens.

Es gibt Bilder, in denen der Blick des Mädchens den Bildraum regelrecht verlässt, sich in sanfter Bitte an den Betrachter richtet, als wollte er sagen: „Hol mich da raus!“

Die Figur befindet sich in einem Raum, der nicht ihr Raum ist, in dem sich ihr Inneres nicht ausdrücken kann, sie ist in der Fremde, im Ausland, im e-lend, wie das mittelalterliche Wort so schön sagt. Darum steht sie am Fenster, hinausschauend, sich wegschauend, gleichgültig wohin, nur weg von hier. Darum steht manchmal ein Koffer neben ihr, so klein, dass man glauben möchte, schon das Kind habe damit „Verreisen“ gespielt, ein Koffer, der verschlossen ist, seinen Innen-Raum für sich bewahrt, nicht verraten will, mit welchem äußeren (und inneren!) Gepäck die Wegreisende, die Ausreißende unterwegs ist.

 

So wie das luftige, luft-leichte Kleid ohne feste Konturen bleibt, im Vagen des Hoffens vagabundiert, sich vom Wind gestalten lässt, wirkt die ganze Person auf sympathische, beneidenswerte Weise naiv, von ungebrochener Zuversicht in das auf sie Zukommende, dem sie, ein wenig schlendernd, ein wenig unentschlossen, entgegengeht. So scheint ihr das zugemauerte Fenster, Sinnbild vielleicht für einen verhinderten Fluchtversuch, nicht bekannt zu sein, es liegt in ihrem Rücken. Umgekehrt siezt sie auf einem anderen Bild von einem fernen Fluchtpunkt abgewandt, der ganz in Licht getaucht ist. Will Lena Csercsevics damit andeuten, dass das alles überstrahlende Glück nicht immer aus der Richtung kommen muss, in die man schaut?

 

Die beiden Beispiele haben eines gemeinsam: Die Figur kommuniziert nicht mit ihrem Umfeld, ihren Umraum. Sie sieht, sie hört nicht, was er ihr sagt. Der Dialog zwischen Raum und Figur findet im Kopf des Betrachters statt, der, möglicherweise erschreckt von der Beziehungslosigkeit zwischen Raum und Figur, diesen seine Stimme leiht.

Spätestens hier wird deutlich, dass diese Fotografien, bei allem Realismus im Detail, keine realistischen Werke sind. Diese Bilder entwerfen vielmehr einen metaphorischen Raum, in dem die um ihre Funktion gebrachten Räume vielleicht ein Werksystem symbolisieren, das seine Gültigkeit verloren hat und deshalb nicht mehr imstande ist, Orientierung oder Geborgenheit zu schenken.

Die (für sich betrachtet: herrlich ungeputzten) Scheiben lassen die zeit sichtbar werden, die an dem Gehäuse der Werte nicht spurlos vorübergegangen ist. Ein Fenster in diesem großen Fenster ist geöffnet und ermöglicht so einen ungetrübten Blick: auf eine junge Frau, die auf dem Wege ist, diesen unbewohnten Ort zu verlassen.

 

Noch mehr Licht-Blicke gibt es. Auf dem großen, leeren Dachboden der alten Filzfabrik, durch dessen Dachfenster helles Tageslicht fällt und wie Lichtinseln auf dem Boden liegt, tanzt das Mädchen, sich selbst vergessend, aber auch den Raum vergessend, in dem sie ihre Freiheit tanzt. Auf einmal scheint er ihr unendlich, grenzenlos. Und der Betrachter, dank der von Lena Csercsevics mit Einfühlungsvermögen gewählten Perspektive, darf sicher sein, dass sein Blick die in sich, in ihren seelischen Innen-Raum Versunkene nicht stört. Mit Sehnsucht sieht man ein naives Glück, das nicht nur den Raum um sich vergessen hat, sondern auch die Zeit. 

 

Lena Csercsevics hat ihren Bildern keine Titel gegeben - Nicht, weil ihr keine eingefallen sind. Auch nicht, weil die Richtlinien der Interpretation durch den ??? zu bestimmen wären. Vielmehr weil sie, aus der Erfahrung heraus, dass fertige Interpretationen oft das verschließen, was sie öffnen sollen, jedem Betrachter die Freiheit geben will, die Geschichte aus dem Bild zu hören, die - verborgen für andere - für ihn darin liegt.

„Was es ist - ist es“ heißt die Ausstellung, lesen Sie ruhig: Was es für dich ist - ist es für dich.

Es ließen sich ja durchaus noch andere Fragen stellen: 

Ob es immer alte Gebäude sind, die einem die Freiheit rauben... Ob es nicht auch brandneue Gefängnisse gibt...

Ob es stimmt, dass jeder „in“ sein möchte - ein Gefangener sieht das vermutlich anders... Ob es möglich ist, das Innere zu erkennen, wenn es sich nicht im Äußeren spiegelt... 

Ob ein innerer Wert auch ohne Outfit auskommen könnte... 

Ob manches Outfit vielleicht ganz gut ohne Inneres existieren kann, als Oberflächendekoration eines Hohlraums...

 

Verehrte Anwesende, gehen Sie in sich, suchen Sie nach Ihren Fragen, werfen Sie diese Fragen den Bildern zu! Wer weiß, vielleicht antworten sie ja...

 

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